Wer ist das?
Er gehört zu den prominentesten Personen der Gegenwart. Wenn er sich zu Problemen der Zeit äussert, wird dies von Zeitungen, Fernseh-und Radiostationen rund um den Globus kommentiert. Viele Millionen Menschen verehren ihn wie einen Heiligen, T-shirts mit seinem Porträt sind in Teilen der Welt überaus beliebt, was nicht zuletzt an seiner ausserordentlich charismatischen Ausstrahlung liegt. Er wird im persönlichen Umgang als äusserst charmant, höflich, zuvorkommend und sanftmütig beschrieben. Obgleich er ein Leben in Luxus führen könnte, hat er es vorgezogen, in bescheidenen Verhältnissen zu leben. Er spendete ein wahres Vermögen an Witwen und Waisen, sorgte für humanitäre Versorgung in Kriegsgebieten und gründete schon während seines Studiums eine Wohlfahrtsorganisation.
Sein aussergewöhnliches altruistisches Engagement begründet er mit seinen tiefen religiösen Überzeugungen. Die Religion, für die er eintritt, sei, so schreibt er in seiner aufsehenerregenden Veröffentlichungen, „die Religion der Ehrlichkeit…., der Barmherzigkeit, der Ehre, der Reinheit, der Frömmigkeit. Es ist die Religion der Nächstenliebe und der Gerechtigkeit zwischen den Menschen. Es ist die Religion, die jedem Menschen sein Recht zuspricht und die Unterdrückten und Verfolgten verteidigt. Die Religion, die das Gute belohnt und das Böse verbietet mit Hand, Zunge und Herz… Und die Religion der Einigkeit…und der völligen Gleichstellung aller Menschen, unabhängig von ihrer Hautfarbe, ihrem Geschlecht oder ihrer Sprache.“
Um welchen Zeitgenossen handelt es sich? Wer warb im November 2002 mit solchen Worten für seine Weltanschauung? Wenn sie auf den Dalai Lama, den Papst, Nelson Mandela oder Mutter Theresa tippen, liegen sie daneben. Dieser Menschenfreund heisst Osama bin Laden und ist Chef des Terrornetzwerks al-Qaida.
Das Zitat stammt aus dem Buch von Marwan Abou Taam und Ruth Bigalke „Die Reden des Osama bin Laden“ (Kreuzlingen 2006, S.138)
Man mag sich fragen, wie ein Mann, der Terrorakte gegen Zivilisten anordnet, für sich reklamieren kann, im Sinne von Barmherzigkeit, Gerechtigkeit und Ehrlichkeit zu handeln. Sind das alles bloss hohle Worte, Ausflüsse einer zynischen politischen Propaganda? Keineswegs! Man wird Osama bin Laden nicht gerecht, wenn man ihm unterstellt, dass er seine Worte nicht ernst meinen würde. Der sanftmütige Philanthrop Osama bin Laden ist ebenso authentisch wie der kaltblütige Mörder. Für ihn besteht überhaupt kein Widerspruch darin, einerseits die Werte der Milde, der Freundlichkeit, der Gerechtigkeit in Anspruch zu nehmen und andererseits Angst und Schrecken unter den „Ungläubigen“ zu verbreiten.
Mit dieser Doppelmoral steht bin Laden in der Geschichte keineswegs alleine da – sie ist speziell bei Fleischessern ganz deutlich. Auf der einen Seite sind das Menschen, die für Gerechtigkeit, für Frieden und ein harmonisches Miteinander eintreten, und zur gleichen Zeit eine unheimliche Gleichgültigkeit an den Tag legen, wenn es um das Leiden von Mitgeschöpfen, den Tieren, geht.
Auf der einen Seite sind sie schockiert und wirklich betroffen, wenn eine Schweizer Fernsehjournalistin in Peru ein Meerschweinchen verspeist (siehe Tagesanzeiger vom 24.3.2010) oder jemanden seine Katze oder seinen Hund misshandeln würde oder wenn man dem berühmten Delphin „Flipper“ sein Existenzrecht verweigern würde - und zur gleichen Zeit essen genau diese Menschen Millionen von Tieren, die ebenso leben wollten, und geben mit jedem Bissen Fleisch einen Tötungsauftrag. Es ist eine Binnenmoral, die einfach blind ist für das Leiden anderer Geschöpfe.
Schon 1885 hatte der russische Ethnologe Michail Kulischer diesen bemerkenswerten Dualismus der Ethik festgestellt. In seiner Auswertung der Reiseberichte früher europäischer Völkerkundler kam Kulischer zu dem Ergebnis: „Auf den primitiven Kulturstufen existieren zwei diametral entgegengesetzte Sittensysteme. Das erste umfasst die Angehörigen einer Gemeinschaft und regelt die Verhältnisse der Mitglieder untereinander. Das andere beherrscht die Handlungsweise gegenüber den Anderen. Die erste schreibt Milde, Güte, Solidarität, Liebe und Frieden vor, das andere Mord, Raub, Hass, Feindschaft und Diskriminierung. Das eine gilt für die Zugehörigen, das andere gegen die Fremden.“
Fleischessen ist ein Restrelikt einer primitiven Kulturstufe, die eine strikte Unterscheidung zwischen Mitgliedern der eigenen Gruppe (ingroup) und dem Umgang mit dem Anderen (outgroup) vornimmt.
Hannah Arendt hat 1963 ihr berühmtestes Werk geschrieben: „Eichmann in Jerusalem – ein Bericht von der Banalität des Bösen“
In diesem Buch gab die Philosophin ihre Eindrücke als Beobachterin des Prozesses gegen Adolf Eichmann, einem der grössten Nazi-Kriegsverbrecher, der für die Judendeportationen massgeblich verantwortlich war, wider.
Der Titel löste Irritation aus. Wollte sie damit das unermessliche Leid bagatellisieren?
Nichts lag Hannah Arendt ferner. Sie versuchte mit der „Banalität des Bösen“ lediglich die im Gerichtssaal offensichtlich werdende Diskrepanz zwischen dem so gewöhnlich erscheinenden Persönlichkeitsprofil des Täters und der aussergewöhnlichen Schwere seiner Taten zu erfassen. Denn beim „besten Willen“ konnte Arendt dem Angeklagten Eichmann keine „teuflich-dämonische Art abgewinnen“ (S.57)
Das Beunruhigende an seiner Person sei gerade gewesen, „dass er wie viele und dass diese vielen weder pervers noch sadistisch, sondern schrecklich und erschreckend normal waren und sind.“ (S.400). „Er war einfach gar nicht der Bösewicht, dem man sich vorgestellt hätte, sondern ein ganz normaler Mitbürger – ausser vielleicht einer Beflissenheit, alles zu tun, was seinem Fortschritt dienlich sein konnte. Er hat sich nur, um in der Alltagssprache zu bleiben, niemals vorgestellt, was er eigentlich anstellte…. Es war gewissermassen schiere Gedankenlosigkeit – etwas, was mit Dummheit keineswegs identisch ist -, die ihn dazu brachte, zu einem der grössten Verbrecher seiner Zeit zu werden.“ (S. 56 f)
Genau diese Struktur hat sehr viel mit unserem Umgang mit Tieren zu tun. Es ist nicht Böswilligkeit und der Wunsch, anderen Lebewesen furchtbare Schmerzen und Tod zuzufügen, aber einfach Gedankenlosigkeit. Und diese Gedankenlosigkeit lässt unzählige Tiere zu absolut unschuldigen Opfern menschlicher Genusssucht werden.
Hannah Arendt zeigte am Fall Eichmann auf, dass die Motive selbst der schlimmsten Nazischergen meist trivialer Art waren; dass einige der grausamsten Verbrechen von Menschen begangen wurden, die als Personen gar nicht bösartig erschienen.
Wir leben doch in einer Welt voll anständiger Menschen, die durchaus ethische Werte in sich tragen und die sich gegen Grausamkeit wehren und Brutalität verabscheuen und sich engagieren für Leidende. Wenn jemand im Zoo einen Affen vergiften würde, so käme dies in allen Zeitungen und man würde es als abscheulich empfinden. Der Durchschnittsbürger findet es nicht gut, wenn Tieren Qualen zugefügt werden.
Und zur gleichen Zeit ist man Auftraggebender für einen täglichen Massenmord von unsäglichem Ausmass – mit jedem Bissen Fleisch, den man isst.
Adolf Eichmann war nicht ein böswilliger Gesinnungstäter, sondern bloss ein dienstbeflissener treuer Erfüllungsgehilfe in einem Verwaltungsmassenmord….
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